Ist Versöhnung überhaupt möglich?
Ein Paar geht in die Therapie. Ein Paar, wie andere Paare dies auch tun. Ein Mann und eine Frau auf der Suche nach dem gemeinsamen Weg, nach dem Erspüren und Erwecken der verbindenden Vision, nach der Liebe, die war. Die vielleicht immer noch ist, und die sich mit dem Verbringen der gemeinsamen Jahre verändert hat. Das Paar auf der Suche nach der Gemeinsamkeit, nach dem Verbindenden, welche es möglich machen, zusammen in die Zukunft zu gehen.
Das Paar in der Therapie findet sich ein im neutralen Raum des Therapeuten. Drei Stühle reihen sich um den kleinen Beistelltisch, auf dem Frühlingsblumen duften. Drei Stühle, drei besetzte Stühle, Frau, Mann, Therapeut*in. Doch die imaginären Stühle im Raum sind viel zahlreicher: Der Stuhl der Schwiegermutter, der Stuhl des Geliebten, der der heimlichen Affäre, ein Stuhl für das Kind, das zu Hause wartet. Und auf den Schultern von Mann und Frau stapeln sich Verletzung, Angst, Hoffnung, Erwartung, Enttäuschung und viel Geschichte, viel Beziehung.
der berauschende Start
Pauschal betrachtet, verliebt sich Frau in Mann und umgekehrt. Die beiden treten in Beziehung, vertiefen ihre Bindung. Zu Beginn ist so vieles leicht und unbeschwert, beide sind tolerant und grosszügig unterwegs. Die kleinen Herausforderungen werden ins Beziehungsmuster integriert, das Interesse beider, die Verbindung zu gestalten, ist gross. Mit der Zeit und dem Abnehmen der beglückenden Hormone, mit dem effektiven Erkennen des Gegenübers, hält die Gewohnheit Einzug. Es entsteht ein gleichmässiges Miteinander, die Ruhe kehrt ein, das Gefühl des wohligen Zusammenseins. Und allmählich, dezent im Hintergrund erst, schlummert die Frage, inwiefern in diesem Nest der Beziehung Glück und Zufriedenheit längerfristig, bis hin zum Lebensende, ihren Raum einnehmen können. Vielleicht taucht vermehrt der Wunsch nach Wachstum auf, der Drang nach Lebhaftigkeit, die Sehnsucht nach Begehren und Atemlosigkeit.
Und plötzlich steht das Paar an einer Kreuzung mit vielen verschiedenen Wegweisern:
die Wegweiser des Paares
Einsamkeit und GemEinsamkeit zelebrieren
Frau und Mann sind bewusst unterwegs. Beide sind reflektiert und mutig in der bewussten Auseinandersetzung – in der Auseinandersetzung mit sich selbst. Welches sind meine ganz persönlichen Wünsche und Ziele? Inwiefern nähre ich mich selber, und was ziehe ich aus der Beziehung heraus, was versuche ich zu kompensieren? Welche Emotionen prägen meine Gefühle? Beide, Frau und Mann, sind sich ihrer Sehnsüchte bewusst und stehen selbständig, eigenständig im Leben. Dadurch ist es möglich, erwartungslos in Beziehung zu treten und zu schätzen, was das Gegenüber einbringt. Es ist möglich, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zu formulieren. Es findet ein Austausch statt. Dadurch, dass wenig Bedürftigkeit in der Beziehung herrscht, dadurch, dass Frau und Mann sich in erster Linie selber nähren, ist es möglich, in einem reifen und gesunden Miteinander die gemeinsame Vision zu gestalten.
Das Schöne gutreden
Der Weg der gemeinsamen Geschichte hat einen wunderbaren Boden gelegt, auf dem viel Wertvolles gewachsen ist – das Hüten der Nostalgie. Vieles ist gut, einiges ist nicht so, wie Frau und Mann sich dies vorgestellt haben. Das Paar bewegt sich in der Komfortzone, schätzt und fokussiert das Positive. Das Negative wird integriert und nicht aber überbewertet. Es ist einfach gut, wie es ist. Das Gute wird schöngeredet und erhält dadurch viel Wert. Das Leben verändert sich, die Liebe verändert sich. Und das ist Teil des Prozesses. Ob bewusst oder unbewusst, Freud und Leid werden angenommen und integriert. Nach dem Motto «Es gibt spektakuläre und unspektakuläre Beziehungen. Nur die unspektakulären Beziehungen sind überlebensfähig» plätschert das Leben dahin, und plötzlich sind 10 Jahre vergangen, ohne es zu merken. So ist das Leben mit seiner Wertschätzung und dem Genuss nach Beständigkeit.
Bewahren und Ausbrechen: Das Bewahren des Gemeinsamen ist zentral. Beide schätzen das zusammen gestaltete Leben, der Gewinn der Beständigkeit fühlt sich erfüllend an. Und doch – irgendwo kitzelt die Sehnsucht nach dem Lebendigen. Nach Neugierde und Aufregung. Vielleicht führt eine Weiterbildung, ein Lesezirkel, ein Gleitschirmflug zum lange vermissten Kitzel. Vielleicht beflügelt eine Affäre Körper und Seele. Oder der gemeinsame Besuch eines Freudenhauses bringt Leben in die gewohnten Bahnen. Die Vorstellung, das geordnete Leben aufs Spiel zu setzen, löst Ängste aus. Das Lebendige wird so dosiert, dass das Fundament des Alltags nicht zu stark aufgewirbelt wird.
Hin… und weg
Das, was verbindend war, ist weit weggerückt. Ein Schatten. Gefühle, in Vergessenheit geraten. In Stille und Einsamkeit voneinander wegbewegt. Energielosigkeit, kein Antrieb, zu flicken, zusammen zu fügen, was noch ist. Manchmal, oft sogar, gescheitert in den Träumen, in der Möglichkeit, den Weg gemeinsam zu gehen. Zum Leide aller manchmal ein würdeloser, ein himmeltrauriger Abbruch aus der Beziehung, die Verbindung, die zuerst so vielversprechend war. Ein Scherbenhaufen, ein Rosenkrieg. Das, was bleibt, ist das Retten der verwundeten Seelen. Und vielleicht die Hoffnung auf Versöhnung.
die Zeit der einsamen Suche
Der Weg, welcher ein Paar beschreitet, ist vielseitig, individuell – und wertefrei. In der Therapie finden sich Paare ein, die meistens länger in Selbstregie versucht haben, einen Richtungswechsel in ihrer Beziehung zu inszenieren. Neben den besetzten und unbesetzten Stühlen nimmt die Suche nach Strategien und Lösungen Raum ein. Gute Prognosen für eine erfolgreiche Paartherapie haben die Beziehungen, die in einer frühen Phase der Auseinandersetzung Unterstützung in Anspruch nehmen. Oft steht die zentrale Herausforderung im Raum, dass viele Männer und Frauen nicht miteinander reden können. Das Unvermögen, von sich selber zu reden. Und die fatale Hoffnung, in einer Paarbeziehung die eigenen Probleme und Unmöglichkeiten dem anderen zur Lösung abgeben zu wollen. Die Hoffnung, gerettet zu werden.
Die Magie der Versöhnung
Ist Versöhnung überhaupt möglich, wenn Beziehungen eine komplette Verstrickung von Projektionen, Erwartungen, Liebe, Lust, Lebendigkeit und Individualität ist? Eine Versöhnung von der Geschichte, von der Prägung, von den Verletzungen und von dem gemeinsamen und individuellen Weg?
Versöhnung ist etwas Stilles. Versöhnung ist etwas Einsames. Es ist ein Prozess, der jede Frau, jeder Mann mit sich selbst durchleben muss, damit er wahrhaftig ist. Es ist ein Ankommen in sich, an einem Ort, an dem nichts ist ausser Leere und Reinheit. Keine Schuld, keine Hoffnung, keine Erwartung. Es ist ein Zustand der Nüchternheit. Ein Moment des Loslassens von so vielem, was Energie und Potential beinhaltet hat. Versöhnung ist im Endeffekt unspektakulär und ermöglicht den Atem der Freiheit.