Das Bordell-Leben – Interview mit Ilan Stephani
Die Prostitution, die Bordelle, die roten Schaufenster – dies für mich eine Welt, die nicht berührbar und doch präsent ist.
In meinen Gedanken treffe ich auf Bilder von Frauen, die sich knapp und anzüglich kleiden, Frauen, die sich hinter einer Maske aus viel Schminke verstecken, um sich zu schützen. Männer, die Sex wollen und bereit sind, dafür zu zahlen – zielstrebigen Sex, unverbindlichen Sex. Schummrige Treppenhäuser und bordeauxrote Chaiselongue, parfümierter Duft in der Luft, der den Geruch nach Sex und Begierde und Mann überdecken soll. Ich weiss es nicht, ob es wirklich so ist. Es ist eine Welt, die mich neugierig macht, vor der ich aber Hemmungen hätte, sie zu betreten.
Nicht so Ilan Stephani. Ilan Stephani, eine Frau aus Berlin, eine Frau aus gutem Hause, mit viel Potential zu einem durchschnittlichen Leben, entscheidet sich, in einem Bordell zu arbeiten.
«Und was ich auch tun kann, um lebendiger zu werden: Ich begegne dem Leben, der gesamten Trance von Normalität mit meinem ganzen Wesen – mit voller Kraft und vollem Risiko.»
Während zwei Jahren erlebt sie die Männer, die sich ihre Sexualität und die Welt der Lust erkaufen. Sie begegnet Männern auf der Suche nach einer echten Begegnung zu einer Frau. Dank der Anonymität des Bordells erlebt sie Männer in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer Weichheit und in ihrer Selbstoffenbarung. In ihrem Buch «LIEB UND TEUER» erzählt sie von diesem Abschnitt des Lebens und davon, was sie in der Arbeit im Bordell gelernt hat.
Das Interview von August Gretener mit Ilan Stephani:
Die legale Prostitution
Seit 1942 ist in der Schweiz die Prostitution, das heisst, das Angebot sowie der Konsum, legal. Mehrheitlich sind es Frauen (95%), die im Sexgewerbe arbeiten – zwischen 13’000 bis 25’000 Frauen verdienen ihr Geld als Prostituierte und generieren pro Jahr einen steuerbaren Umsatz von rund 3.5 Milliarden Franken. Und zu 99% sind es Männer, die in Bordellen, auf dem Strassenstrich Prostituierte aufsuchen. Diese Zahlen zeigen, dass es eine enorm grosse Nachfrage nach bezahltem Sex beziehungsweise nach bezahlten Liebesdiensten oder «Begegnungen in sexuellem Kontext» gibt.
Die Prostituierten müssen mindestens 18 Jahre alt sein, Schweizerin – oder eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung besitzen. Das erwirtschaftete Einkommen wird versteuert, man könnte sagen, dass die Sexarbeit ein Beruf wie viele andere aus dem Dienstleistungssektor ist. Immer wieder behauptet man/n, diese Arbeit zähle zu dem ältesten Gewerbe überhaupt. Warum sich dann gross Gedanken darüber machen?
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Sex als patriarchaler Trieb
Die Prostitution war schon immer Teil des patriarchalen Denkens. In Gesellschaftsstrukturen, in denen die Frauen den Männern nicht gleichgestellt waren, in denen die Frauen, ähnlich wie die Sklaven, als Besitz der Männer galten, wurde die Prostitution gelebt. Die Unterteilung von «Hure und Heilige» geht bis ins Alte Testament und in die Antike zurück. Die Frau hatte sittsam zu sein, keusch und dem Mann treu ergeben und unterwürfig.
Der Mann wollte sicher sein, dass er der Erzeuger der gemeinsamen Brut war. Dennoch wollte er nicht auf Sex mit anderen Frauen verzichten. Sex als Trieb, Sex als männliches Bedürfnis, das befriedigt werden durfte oder sogar natürlicherweise befriedigt werden musste. So war es für die Männer «legitim» und sozusagen notwendig, ausserhalb ihrer Ehe Frauen aufzusuchen. Die Frauen zu Hause galten als ehrbar und keusch und erfüllten die ehelichen Pflichten, die lustvollen Frauen in den Bordellen wurden als wert- und ehrenlos angesehen – und begehrenswert.
Viele Mädchen und Frauen sind in ihrem privaten Umfeld Gewalt ausgesetzt, werden missbraucht und traumatisiert. Prostituierte sind durch ihre Arbeit, welche sie exponiert und schutzlos macht, häufig von Gewalt und Machtmissbrauch betroffen. Viele werden ausgebeutet und stehen zusätzlich in einer Abhängigkeit und Unterwerfung Seitens ihrer Zuhälter. Hinter sehr vielen Frauen steht ein Mann, der von der Prostituierten finanziell profitiert. Es sind Themen von Abhängigkeiten, Gewalt, Machtmissbrauch, Menschenhandel, Drogen und Alkohol, welche die Leben der Sexarbeiterinnen begleiten und dominieren.
«Piff, Paff, Puff»
Die Journalistin Aline Wüst hat sich intensiv mit der Prostitution in der Schweiz auseinandergesetzt und die Recherchen in ihrem Buch «Piff, Paff, Puff» veröffentlicht. Sie führte zahlreiche Gespräche mit Frauen aus dem Sexgewerbe, mit Bordellbesitzern und Freiern. Aline Wüst benennt, dass viele Frauen nicht freiwillig dieser Arbeit nachgehen. 75-95% sind Migrantinnen und daher entwurzelt, abhängig und benachteiligt. Viele kämpfen mit Schamgefühlen und einem niedrigen Selbstwert. Wichtig sei es, so Aline Wüst, dass die Frauen, die einen Ausstieg aus diesem Beruf wollen, dabei unterstützt würden. Sie bräuchten Perspektiven, eine berufliche Alternative und Therapieplätze. In ihrem Buch gibt sie denjenigen Frauen eine Stimme, die nur noch stumm schreien können. (Interview aus annabelle, September 2020)
Der vereinsamte, sexhungrige Freier
Aber wer sind denn die vielen Freier, die die Dienste der Sex-Arbeiterinnen in Anspruch nehmen? Stellen wir uns einen liebeshungrigen, kommunikationsarmen, vereinsamten, gewaltbereiten Mann vor, der isoliert und alleine durchs Leben zieht und zwischendurch seine sexuellen Bedürfnisse bei einer anonymen Frau befriedigt? Ilan widerlegt diese Annahme. Die Freier, die sie besucht haben, sind «ganz normale Männer» wie der Nachbar, der Chef, der Postbote, der Ehemann, der Professor, der Künstler. Es sind Männer, die aus vielen unterschiedlichen Gründen die sexuelle Begegnung mit einer Frau suchen, mit ihr einen intimen Moment erleben, sie bezahlen und dann wieder gehen. Vielleicht ist es eine anonyme Begegnung. Vielleicht sind die Besuche regelmässig, und zwischen dem Freier und der Prostituierten entsteht eine Form von Beziehung. So viele Freier es gibt, so viele Geschichten gibt es. Unendlich viele Geschichten, die hinter verschlossener Bordelltüre oder im Hinterhof geschrieben werden.