Der Kampf um den Orgasmus

 

Sex ist ein komplexes Zusammenspiel von vielen verschiedenen Faktoren. Es sind dies die körperlichen Komponenten, die «Funktionalität» meines Genitals. Die Fähigkeit, die Körpersignale für die aufkommende Lust zu erkennen.

 

Signale der Lust

Konkret ausgedrückt, das Feuchtwerden in der Vagina, die Anschwellung des Penis, Herzklopfen, schnellerer Atem. Die Fokussierung auf die Lust nach Erleben, nach Eintauchen. Das betörende Gefühl, mit dem eigenen Körper verbunden zu sein, sich mit einem Gegenüber zu verbinden. Atemlosigkeit. Sich von den Fantasien führen, sich einlullen lassen vom Sog des Mehr-Wollens.

Der rote Faden unseres sexuellen Seins und Wirkens ist unsere sexuelle Lernbiografie: Wie habe ich mich vom neugierigen, offenen und grundsätzlich lustvollen Kind zu einem erwachsenen Menschen entwickelt? Wie konnte ich mich und mein Genital kennenlernen? Wurde ich bestärkt darin, mich zu erkunden, mich zu berühren? Wurde ich als das bejaht, was ich spürte zu sein?

Das, was ich als Erwachsene als lustvoll erlebe, das, was mich heute anmacht, wurzelt in unseren frühen lustvollen Erfahrungen. Über all die Jahre der sexuellen Entwicklung haben wir dies bewahrt, durch Wiederholungen gefestigt und durch neue Erfahrungen erweitert. Unsere Lust ist ein Sammelsurium von Körperempfindungen, Gedankenbildern, sinnlichen Erlebnissen und emotionalen Empfindungen. Unsere Lust ist gelernt. Unsere Sexualität ist erlernt.

 

die spannung des point of no return

Der Point of no return: in meinen Worten beschrieben ist dies der Punkt oder eher die Schwelle, wenn die körperliche Erregung  – die Lust im Körper, in den Gedanken und Gefühlen  – ansteigt bis hin zur orgastischen Entladung. Das ist dann, wenn die körperlichen Komponenten so zielgerichtet auf den Höhepunkt ausgerichtet sind und die maximale Spannung erreicht wird. Eigentlich führt dann kein Weg zurück, das Nadelöhr, der Ausgang des Tunnels, das Anzünden der Feuerwerksschnur.

 

Die vier Phasen der Erregung

Unser Körper hat uns mit Automatismen ausgestattet, die einfach passieren. Wenn wir niessen, schliessen wir die Augen. Wenn wir an unser Knie schlagen, spickt es nach vorne  – Reflexe des Körpers. Das passiert einfach mit uns. Und so gründet auch die Sexualität auf Reflexen: Der Erregungsreflex löst die sexuelle Erregung aus, und wenn diese Erregung bis zum Point of no return – dem Punkt ohne Wiederkehr – ansteigt, wird der Orgasmusreflex ausgelöst, bei dem die sexuelle Erregung mit einer Entladung endet.

Und noch ein bisschen detaillierter ausgeführt, zuerst am Beispiel des Mannes: Seine Sinne nehmen einen Eindruck auf, der die Erregung anstösst. Dies kann durch eine Berührung passieren oder einen Gedanke, ein Geruch, ein Bild, eine Erfahrung, welche bewusst oder unbewusst auftaucht. Durch diesen Impuls übernimmt der Körper die Führung, und der Erregungsreflex löst körperliche Aktionen aus: Der Blutdruck steigt an, der Puls wird schneller. Blut fliesst ins Genital, der Penis schwillt an und wird grösser. Der Mann bekommt eine Erektion, möglicherweise fliesst der Lusttropfen. Bei weiterer Stimulation und Steigerung der Erregung kann der Orgasmusreflex ausgelöst werden. Das Sperma wird durch rhythmische Kontraktionen der Schwellkörpermuskeln ausgestossen. Und dann kehrt langsam wieder Ruhe ein, die Muskeln entspannen sich, das Blut schwillt ab, die Refraktärphase rundet das sexuelle Abenteuer ab.
Bei der Frau sind die Zeichen, die die körperliche Erregung wahrnehmen lassen, manchmal diskreter, weil unser Genital nicht so offensichtliche Zeichen aussendet. Der Erregungsreflex gibt den Impuls, dass mehr Blut ins Genital fliesst. Die Klitoris und die Charmelippen schwellen an und färben sich intensiver, die Vagina weitet sich und wird feucht. Die Brüste werden empfindlicher, die Brustwarzen stellen sich auf. Durch Stimulation der äusseren und / oder inneren Genitalorgane steigt die Lust bis hin zum Point of no return, und der Orgasmusreflex wird ausgelöst.

Bei dieser Schilderung, wie perfekt die körperlichen Ereignisse vom lustinitiierenden Sinnesreiz über den Erregungsreflex bis hin zum Orgasmus und der Entladung ineinander übergehen, könnte man meinen, dass dies alles reibungslos verläuft. Aber dem ist ja leider oft nicht so. Die Sexualität ist fragil und aufgrund diverser Faktoren störanfällig. Und so kennen viele Menschen den Kampf um den Point of no return, die Arbeit, mit der dieser Weg verbunden sein kann.

 

lohnt sich der Sex wirklich?

Die Überlegung, ob sich der Aufwand und die Anstrengung lohnen für die paar Sekunden Lustentladung und Feuerwerk, darf kritisch überlegt werden. Wenn durch die Erfahrung, durch die Erwartung der Irritationen und Störfaktoren damit gerechnet wird, dass Sex mit Versagen und Erschöpfung einhergeht, ist Lustlosigkeit eine nachvollziehbare Konsequenz. Lustlosigkeit, Rückzug, Einsamkeit, Erektionsprobleme, ausschweifende Alternativprogramme im umfassenden Sinn sind mögliche Folgen. Und was nun, in dieser ausweglosen Situation?

Natürlich möchte ich am liebsten direkt ins Gespräch mit dem Menschen eintauchen, der in dieser Spirale steckt, der darunter leidet. Ich möchte herausfinden, wie der Mensch seine Sexualität lebt, wie die sexuelle Prägung aussieht, was anmacht oder hemmt. Welche Bilder und Erwartungen im Raum stehen. Wie sich die Person bewegt, wie sie atmet. Wie sie sich in ihrem Körper fühlt. Und worauf sie Lust beziehungsweise worauf sie keine Lust hat. Ich möchte mein Wissen teilen und immer wieder ermunternd zurufen, dass sich die Sexualität verändern kann, wenn wir uns neugierig auf den Weg machen.

 

die Gipfelwanderung zum point of no return

Es ist auf jeden Fall spannend herauszufinden, welche Irritationen wir auf unserem Weg hin zum Höhepunkt kreuzen. Verglichen mit einer Bergtour – wenn wir möglichst schnell und sportlich unseren Gipfel erreichen wollen und dabei vergessen, die Umgebung wahrzunehmen, kann es sein, dass wir das Ziel aus den Augen verlieren oder oben ankommen und so erschöpft sind, dass wir den Zauber der Weite übersehen. Oder dass wir vor lauter Anstrengung und Überforderung vorher aufgeben. Möglicherweise hilft es dann, innezuhalten und wahrzunehmen, was ist. Ins Bewusstwerden eintauchen, in die Verlangsamung, in die Fürsorge.

Der Punkt ohne Wiederkehr, ein surfen darauf, ein Überborden, Durchstarten, Überfliegen oder vorher abzweigen. Vieles ist möglich. Und vielleicht gelingt es, möglichst erwartungslos damit zu experimentieren, wie sich das alles rund herum anfühlt.