Brief an meine Tochter
Meine Mutter hat selten mit mir über Sexualität geredet. Sie vermittelte mir das Bild, dass die Frau zur Auslebung des Ehegattens Lust und Trieb zur Verfügung stehen soll. Und dass die Befriedigung des Mannes im Zentrum steht. Im Kontrast dazu verstaute sie ein Buch zwischen ihren Kleidern, welches sich um die Sexualität der Frau drehte. Offenbar war dies also ebenso ein Teil ihrer Gedanken – die Auseinandersetzung mit der erweiterten Welt weiblicher Sexualität und den Empfindungen, welche Frauen erleben können. Die Diskrepanz zwischen der Rolle als Ehefrau und dieses diskret verwahrten Buches nahm ich als Jugendliche wahr, ebenso das Schambesetzte im Zusammenhang mit dem Frausein, mit der Sexualität.
unnötige Sexgespräche
Und nun bin ich selber in der Rolle der Mutter, die den richtigen Weg mit ihren Töchtern gehen will. Es ist mir ein grosses Anliegen, über die Sexualität, über die Weiblichkeit, über die Pubertät und die vielen Veränderungen offen zu diskutieren. Manchmal provokative Ansätze zu wählen – den Vorschlag, zum 14. Geburtstag die Party mit aufgeblasenen Kondomen zu dekorieren, anstatt, wie gewohnt, den Raum mit bunten Luftballons zu füllen, wurde natürlich und verständlicherweise verworfen. Gespräche über Sexualität werden als unnötig und «Ach, Mami, nicht schon wieder…» abgetan.
Erwachsenensexualität versus Jugendsexualität…
An einem Elternabend zum Thema Sexualität blieb mir eine Aussage im Kopf hängen. Der Sexualpädagoge erwähnte, wir Erwachsenen wollten die Jugendlichen oft mit der Erwachsenensexualität aufklären: Sex, Geschlechtsverkehr, Krankheiten, Anatomie. Wir vergessen dabei ihre Ausgangslage, den Fokus auf: bin ich normal, wie ich bin? Wie küsse ich richtig? Wie spreche ich den schönsten Jungen auf dem Pausenplatz an? Tut das erste Mal Sex weh?
Vieles, was mir wichtig erscheint, bleibt unausgesprochen, Frauenthemen oft noch als so unnötig emanzipiert abgetan. Ich akzeptiere dies und weiss, dass sie wissen, dass wenn sie etwas wissen wollen, sie mich als Anlaufstelle kennen. Und so nutze ich diesen Rahmen und schreibe an meine Töchter und die vielen anderen Töchter, die ihren Weg selber finden dürfen. An Töchter, die ihre eigenen Erfahrungen machen sollen und später möglicherweise an Gespräche andocken. Also…
Liebe Tochter
wir gönnen uns nicht so viel Zeit, um über die wirklich wichtigen Dinge zu reden. Ich will Dich auch nicht mit meinem Wissen und meinen Erfahrungen überschütten. Und doch möchte ich Dir einiges mit auf den Weg geben, auf dem Weg vom Mädchen zur jungen, schönen Frau.
Die Veränderungen, welche in Deinem Körper und in Deinem Hirn passieren, sind gewaltig. So vieles wird anders, so viel Neues fügt sich in Dir zusammen. Ein Hormon-Cocktail stellt Dein bekanntes Wesen auf den Kopf. Du lässt den Körper Deiner Kindheit zurück und betrittst nach und nach den Raum des Frau-Seins. Ob Du bereit dafür bist oder nicht, ob Du willst oder nicht, es passiert einfach. Nimm Dir Zeit für Deine Veränderungen, nimm Dir Zeit, Dich neu kennen zu lernen. Ich wünsche Dir das grosse Vertrauen in Dich, dass das, was mit Dir passiert, das, was Du fühlst, was Du entdeckst, normal und gut und richtig ist. Das bist Du.
Ich wünsche Dir Neugierde. Ich wünsche Dir, dass Du Dich mutig und tolerant kennenlernen kannst. Dass Du Deine Schönheit erkennst. Und dass Du auf Jungs triffst, mit denen Du Dich langsam, in Deinem Tempo, an die Sexualität herantasten kannst. Ich wünsche Dir die Offenheit, Deine Gefühle wahrzunehmen, wenn Dir Mädchen gefallen, wenn Du Dich von ihnen angezogen fühlst.
Mache Deine Erfahrungen. Gehe Deinen Weg, auch wenn er noch so unkonventionell sein mag. Ich wünsche Dir, dass Du lernst, mit Deinem Wesen in Kontakt zu sein. Dass Du in Verbindung bist mit dem, was du fühlst, mit dem, was Dir gut tut, mit dem, was Du brauchst.
Nie würde ich Dich mit so vielen Ratschlägen überhäufen, schriebe ich Dir diesen Brief wirklich. Du sollst Deinen Weg unbeschwert gehen können, losgelöst von meinen Erfahrungen. Normalerweise halte ich mich mit meinen Gedanken zurück. Aber jetzt darf ich dies schreiben, was mir wichtig ist:
dein weibliches Mysterium
Liebste Tochter. Schaffe Dir immer wieder einen sicheren Raum, in dem Du Dich entdecken kannst. Löse Dich von den Konventionen, von den Beurteilungen anderer, mache Dich auf zu Dir und Deinen Bedürfnissen. Sei lustvoll, sei neugierig, sei selbstbestimmt, sinnlich, lebe Deine weibliche Energie. Lerne, Deine Wünsche zu formulieren. Nimm, was Du möchtest. Sei in der Hingabe zu Dir, zu Deinem Gegenüber. Und vergiss nie, wie wertvoll Du bist. Sei Dir bewusst, dass Du Dein intimstes Tor zu Dir öffnest, wenn Du Dich einem Mann hingibst. Sei Dir bewusst, dass er in Dein tiefstes wunderbares Mysterium eindringt und Dich mit seiner Energie erfüllt. Öffne Dich, gebe Dich hin, wenn Du spürst, dass es für Dich stimmt. Sei in Kontakt mit Dir. Grenze Dich ab, wenn Du etwas nicht willst, verteidige Dich und das, was Dir wichtig ist.
Jede Begegnung mit einem anderen Menschen ist auch eine Begegnung mit Dir selber. Jedes Einlassen ermöglicht Dir, Dich neu, anders kennen zu lernen. Natürlich verbirgt sich dahinter auch die Angst vor Schmerz, Verletzungen und bleibenden Wunden. Auch dies gehört zum Leben, das ist Teil der Polarität. Vertraue auf Deinen Weg, vertraue auf Deine Kraft und Deine Wurzeln. Vertraue, sei wachsam – und sei offen für Deine Lebendigkeit, für Deine Lebenslust, für Dein Leben und Dein Wachsen.
Und ich begleite Dich im Hintergrund, loslassend und vertrauensvoll – aus tiefstem Herzen Dir verbunden.